SOG glasklar
21. Februar 2021
Kommentar zu Ingrid Berg: Kommunalwahlen in Hessen 1968, Jahrbuch des Hochtaunuskreises, 2021
Die Einheitswahl 1968 in Glashütten, damals und heute
Kommentar zu Ingrid Berg: Kommunalwahlen in Hessen 1968, Jahrbuch des Hochtaunuskreises, 20211
In Glashütten gab es bereits bei den Kommunalwahlen 1960 und 1964 2 Wahllisten. 1968 hatte sich die Bevölkerung aufgrund des neuen Baugebietes auf 1.700 Einwohner verdreifacht und da verabredete man im kleinen Kreis, nur noch eine Einheitsliste (parteilos) zur Wahl aufzustellen? Warum?
Was war in 1968 anders, außer, dass der Ort Glashütten durch ein Neubaugebiet mit rund 1.300 neuen Bürgern eine andere soziokulturelle Zusammensetzung hatte? Viele Neubürger waren Akademiker, arbeiteten bei Hoechst oder waren z.B. Piloten bei der Lufthansa.
Dr. Manfred Roeder in Glashütten2 3 6 7
Seit 1963 wohnte auch der Naziverbrecher Generalrichter a.D. Dr. Manfred Roeder in Glashütten. Roeder hatte sich mit der Berufsbezeichnung „Generalrichter a.D.“ in Glashütten angemeldet, einer Berufsbezeichnung, die es nur in der Nazizeit gab. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft adressierte die Korrespondenz stets an Generalrichter a.D. Dr. Manfred Roeder mit der Adresse Rathaus Glashütten.
Roeder wurde bereits 1964 in Glashütten zum 2. Beigeordneten gewählt. Auch der Erste Beigeordnete Hans Richter wurde von Zeitzeugen als bekennender Nazi beschrieben. Roeder wurde von dem damaligen Bürgermeister Franz Johann Gottschalk beauftragt, juristische Angelegenheiten und Prozesse für die Gemeinde zu führen. Im Zusammenhang mit dem Neubaugebiet gab es reichlich juristischen Klärungsbedarf, was allein schon eine enge Zusammenarbeit zwischen Gottschalk und Roeder voraussetzte.
Roeder war als „Bluthund Hitlers“ verantwortlich für 45 Todesurteile der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ und half bei den Hinrichtungen von Bonhoeffer und Dohnanyi.
Als 1968 im SPIEGEL Artikel zur Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ und Oberkriegsgerichtsrat/ Generalrichter Dr. Manfred Roeder veröffentlicht wurden, fragte der für Glashütten zuständige Landrat Jost aus Hoechst besorgt bei Bürgermeister Gottschalk in Glashütten nach2. In einem Antwortschreiben vom 12.7.1968 an den Landrat Jost negierte Bürgermeister Gottschalk alle Bedenken bezüglich der Person Roeders. „Es besteht m.E. kein Grund besorgt zu sein. Mir wie auch der Öffentlichkeit steht kein Recht zu, die angesehene Person durch die bis heute in keiner Weise belegbaren Anschuldigungen mit irgendwelcher Manipulation abzuwerten.“ In seiner Antwort beschuldigte er hingegen den SPIEGEL, dass dessen Veröffentlichung einen „verleumderischen Zweck“ verfolge, um den Durchschnittsbürger zu manipulieren, so, wie es auch in kommunistischen Schriften üblich sei2.
Ein Zeitzeuge kommentierte das so: „…und dann haben sie den Roeder auch gleich noch zum 1. Beigeordneten gemacht“3
Einheitsliste für die Kommunalwahl am 20.10.19682
Bereits am 13.7.1968, 1 Tag nach der Antwort an Landrat Jost, lud BM Gottschalk ausgewählte Bürger, die sich bereit erklärt hatten für die Kommunalwahl zu kandidieren, per Brief für den 16. Juli 1968 ins Glashüttener Hotel „Zur Krone“ zwecks Aufstellung einer Einheitsliste (parteilos) für die Kommunalwahl am 20.10.1968 ein. Es fanden sich 20 Personen zu diesem Treffen ein, inklusive Bürgermeister Gottschalk und den beiden Beigeordneten Roeder und Richter. In einer geheimen Abstimmung legte man 16 Kandidaten für die Einheitsliste fest, die ersten 4 waren dann auf dem Stimmzettel zur Gemeindewahl namentlich aufgeführt.
Bei Aufstellung dieser parteilosen Einheitsliste wurde für „alle Besprechungsteilnehmer verbindlichst abgesprochen, dass im Interesse und Erfolg der Einheitsliste an einem anderen Wahlvorschlag nicht beteiligt wird. Dafür gilt als vereinbart, dass nach Abzug von Ersatzmitgliedern für den Wahlvorschlag die übrigen Wahlbewerber in den Magistrat/ Vorstand einziehen.“ Damit wurde festgelegt, dass es keine weiteren Wahlvorschläge geben würde.
Am Kommunalwahltag, am 20.10.1968, konnten die Wähler nur ein Kreuz für „JA“ auf einer Liste von 4 Kandidaten machen, es gab keine Möglichkeit für „NEIN“. Nicht mit „JA“ angekreuzte Wahlscheine wurden als Enthaltung gewertet. Der Wähler hatte also keine Wahlalternativen. Eine einzige Ja-Stimme hätte rein theoretisch genügt, damit diese Einheitsliste erfolgreich gewählt worden wäre.
Mit wem hat sich Bürgermeister Franz Johann Gottschalk dieses absolut undemokratische Prozedere ausgedacht? Eine Einheitswahl in dieser Form war 1968 schon lange nicht (mehr) erlaubt, da sie dem Grundrecht der Wahlfreiheit widersprach.
Bei dem internen Einheitswahl-Treffen im Hotel „Zur Krone“ hatte man sich auch verabredet, wer Gemeindevertreter oder Beigeordneter werden sollte. Roeder wurde auf der von BM Gottschalk vorgelegten Vorschlagsliste der Kandidaten für die Gemeindevertretung und den Gemeindevorstand auf die Position 1 ohne Gegenkandidaten für den Gemeindevorstand gesetzt, d.h. er war von vornherein für die Position des 1. Beigeordneten vorgesehen. Auf den Positionen 2-5 fanden sich dagegen jeweils 2 Namen zur Auswahl. Bei der Listenaufstellung der Einheitswahl fungierte Roeder als Wahlleiter. Roeder fand sich nicht auf der offiziellen Kandidatenliste.
Die Wahl des Gemeindevorstandes fand am 19.11.1968 statt. Erstaunlich ist, dass es für diese Wahl der Beigeordneten plötzlich 2 Listen gab, die sich durch die Position des Ersten Beigeordneten unterschieden, die anderen Namen waren gleich, wenn auch in anderer Reihenfolge. Nur auf einer Liste steht Roeder als 1. Beigeordneter zur Wahl. Auch gab es jetzt 2 Kreise für ja und nein.
Zum Beigeordneten konnte man damals auch nicht gewählte Bürger aufstellen. Roeder stand nicht zur Wahl, aber mit diesem Schachzug sollte Roeder wohl unbeschadet vom 2. zum 1. Beigeordneten befördert werden. Roeder wurde dann allerdings nur mit 5 zu 4 Stimmen gewählt.
Die Wahlen einer Einheitsliste waren generell rechtens. Aber so, wie sie in Glashütten 1968 vollzogen wurden, entsprachen sie nicht dem, was der Gesetzgeber mangels fehlender Listen/Bewerber zugelassen hatte. In Glashütten mangelte es nicht an Kandidaten. 19 Kandidaten standen für 9 Listenplätze zu Verfügung. Das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofes vom 6.1.19714 stellt eindeutig klar, dass die Wahl von Einheitslisten ohne personelle Alternativen oder der Möglichkeit gegen diese Einheitsliste zu stimmen, auch 1968 nicht dem Grundgesetz zur Wahlfreiheit entsprachen! Und genau dagegen hatte Wolf H. Marder geklagt und 1971 vor dem Hessischen Staatsgerichtshof Recht bekommen. Damit war die Gemeindewahl von 1968 in Glashütten nicht verfassungskonform und musste 1971 wiederholt werden.
Als der Glashüttener Bürger Wolf Marder gegen diese Einheitswahl klagte, wurde Roeder von BM Gottschalk beauftragt, als Bevollmächtigter der Gemeinde den Prozess „Marder gegen Gemeinde Glashütten“ zu führen.
Interessant wäre zu erfahren, wer die Richter der 1. und 2. Instanz waren, die Roeder und nicht dem Kläger Marder Recht gaben und welche Vergangenheit sie hatten, bevor der Hessische Staatsgerichtshof in Wiesbaden diese Einheitswahl am 6. Januar 1971 als verfassungswidrig erklärte.
Ingrid Berg und ihre Sicht auf das Wirken Roeders in Glashütten
Fasst man alle diese Informationen und Gedanken zusammen, dann liegt der von Prof. Tuchel geäußerte Gedanke nah, dass Roeder hier noch mit nationalsozialistischem, politischem Denken, das die „Volksgemeinschaft über die demokratische Auseinandersetzung stellte“, Einfluss genommen hat6. Zumal Roeder in den 1950er Jahren zwei Versuche unternahm eine Nachfolgepartei der NSDAP zu gründen, die beide verboten wurden.
Im Jahrbuch des Hochtaunuskreises 2021 findet sich auf S.211-215 folgender Aufsatz der Glashüttener Lokalhistorikerin Ingrid Berg: „Die Kommunalwahlen in Hessen 1968. Der Glashüttener Bürger Wolf H. Marder schreibt hessische Rechtsgeschichte“1.
Ingrid Berg ist auch in diesem Aufsatz wie in anderen Schriften bemüht, ihr Narrativ vom „harmlosen Generalrichter Roeder und dem unwissenden Bürgermeister Gottschalk“ weiter zu erzählen, wofür sie auch gern die geschichtlichen Fakten nach ihrem persönlichen Ermessen bewertet oder ignoriert.
Um ihrer Sichtweise Nachdruck zu verleihen, diskreditiert sie Prof. Tuchel, Leiter Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin und unsere Arbeitsgemeinschaft SOG glasklar mit namentlicher Nennung einzelner Mitglieder. Berg schreibt: „Weder die Vermutung Tuchels noch gar die zitierten Behauptungen aus der „SOG glasklar“ – Initiative hätten bei Beschäftigung mit der Aktenlage oder Nachfrage im Glashüttener Gemeindearchiv aufkommen können. Keine der genannten Personen hatte in dieser Sache die archivalischen Quellen konsultiert“1.
Mit dieser Behauptung sagt Ingrid Berg die Unwahrheit, wohlwissentlich, dass wir (auch genannte Personen) im Gemeindearchiv waren – und dort die Dokumente von Berg persönlich überreicht bekamen! Wegen dieser Archivdokumente haben und mussten wir genauso argumentieren! Warum will Berg die Fakten nicht akzeptieren?
Bereits ihr HTK Jahrbuch 2018 Aufsatz: „Kommunalpolitik mit NS-Vergangenheit. Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten“5 wurde insbesondere von Fachleuten als „Nazi verharmlosend“ bewertet. Prof. Tuchel veröffentlichte als Replik, Korrektur und Ergänzung auf diesen Text von Berg im HTK Jahrbuch 2020 „Normalität der Integration oder Ignoranz der Verbrechen? Überlegungen zu Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten“6.
Es stellt sich die Frage, warum der Hochtaunuskreis mit dem Landrat als Herausgeber und der Fachbereich Kultur als Redaktion Ingrid Berg erneut eine Bühne bieten.
Ines Nickchen, meine Besuche im Gemeindearchiv
„Man muss beim Ordnungsamt der Gemeinde Glashütten die Besuche im Archiv anmelden und mitteilen, welche Dokumente man einsehen möchte.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich Akteneinsicht für die Zeit von 1960 -1964 beantragt. Frau Ingrid Berg, von Bürgermeisterin Brigitte Bannenberg als „unsere geschätzte Archivarin betitelt, legte mir Akten von 1965 – 1968 vor mit dem Hinweis „Sie wollen doch was über Roeder sehen“. Tatsächlich wollte ich Dokumente zu Hans Richter, dem 1. Beigeordneten bis 1968 sehen. Zeitzeugen (Alt- und Neubürger) hatten mir berichtet, dass Richter ein bekennender Nazi war, d.h. Roeder war nicht der erste „offizielle Nazi“ in Glashütten, mit dem Bürgermeister Gottschalk zusammen arbeitete.
Frau Berg verweigerte Akteneinsicht zu diversen Dokumenten mit dem Hinweis auf zeitliche „Sperrhinweise“. Telefonate mit der sehr freundlichen Hessischen Archivberatung brachten Klarheit: Alle Angaben, mit denen Frau Berg Akteneinsicht verhindern wollte, waren falsch. Ein Archivverzeichnis war nicht vorhanden und Dokumente wirkten unsortiert.
Bei meinem zweiten Archivbesuch fragte ich wieder dezidiert nach Dokumenten zu Hans Richter. Frau Berg behauptete, dass ihr dieser Name im Archiv noch nie aufgefallen war. Merkwürdig anmutend war dann, dass beim Aufschlagen des 1.Ordners obenauf eine Liste mit Namen, Adressen, Geburtsdatum, Geburtsort, inklusive Hans Richter lag. Berg war sichtlich irritiert.“
Resume
Berg behauptet in ihrem Aufsatz „Kommunalpolitik mit NS-Vergangenheit? Überlegungen zur Darstellung des Generalrichters Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten“ Jahrbuch Hochtaunuskreis 20185, dass sie ALLE Akten von 1963 – 1971 im Gemeindearchiv gesichtet und berücksichtigt hat, was ja wohl offensichtlich nicht stimmt. Einen 1. Beigeordneten kann man nur übersehen, wenn man ihn übergehen will, ebenso wie all die gerichtlichen Tätigkeiten, mit denen Bürgermeister Gottschalk Generalrichter a.D. Roeder beauftragt hatte. Es stimmt eben nicht, dass Roeder nur mal eine Urlaubsvertretung für Gottschalk machte7, der aber kaum in Urlaub war – wie Berg im HTK Jahrbuch 2018 schreibt5. Ganz offensichtlich benutzt Berg nur die Dokumente, die zu ihrem Narrativ eines harmlosen Roeders und eines zu schützenden Bürgermeisters Gottschalk passen.
Literaturliste:
1. Ingrid Berg: „Die Kommunalwahlen in Hessen 1968. Der Glashüttener Bürger Wolf H. Marder schreibt hessische Rechtsgeschichte.“, Jahrbuch Hochtaunuskreis 2021
2. Archivunterlagen aus dem Archiv der Gemeinde Glashütten
3. Zeitzeugen, Quelle Ines Nickchen
4. „Neue Juristische Wochenschrift“ NJW 1971, S.697 ff.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil | Kommunalwahl in Hessen – Erforderlichkeit von mindestens zwei Listen | Art 73 Abs 2 S 1 Verf. HE, § 45 Abs 2 StGHG HE
5. Ingrid Berg: „Kommunalpolitik mit NS-Vergangenheit? Überlegungen zur Darstellung des Generalrichters Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten“ Jahrbuch Hochtaunuskreis 2018
6. Prof. Tuchel: „Normalität der Integration oder Ignoranz der Verbrechen? Überlegungen zu Manfred Roeder als Beigeordneter in Glashütten“, Jahrbuch Hochtaunuskreis 2020
7. Nicolas Freund: Nur ein Steinwurf. Der Ort Glashütten hat eine lange Geschichte mit einem hässlichen braunen Fleck. In: Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 2020 (Feuilleton); ebenso SZ. plus
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Glashütten den 21. Februar 2021